Als Bindungsangst wird gemeinhin ein Verhaltensmuster bezeichnet, welches mit der bewussten oder unbewussten Distanzierung von tiefen Bindungen und Beziehungen mit anderen Menschen einhergeht. Warum Bindungsängste entstehen, wie sie erlebt werden und wie sich Bindungsängste im Alltag zeigen, kann dabei ganz unterschiedlich sein. Wir klären auf, was es mit Bindungsängsten auf sich hat und wie Betroffene oder Partner bindungsängstlicher Menschen mit ihnen umgehen können.
Bindungsangst kann viele verschiedene Gesichter tragen und verschieden stark ausgeprägt sein. Im Grunde genommen geht es hier um eine Autonomie- und Nähe-Distanz-Problematik. Menschen mit einer Bindungsangst sehnen sich nach Liebe, erleben aber gleichzeitig die Nähe als bedrohlich. Wie stark und in welcher Form sich Bindungsangst zeigt und welche Situationen sie auslösen, ist höchst individuell. Nicht jeder Bindungsängstlicher legt alle dafür prädestinierten Verhaltensweisen an den Tag. Es kommt nicht immer zu Problemen. Nicht jeder Partner löst gleich starke Reaktionen aus.
Wie wir Beziehungen gestalten bestimmt sich zum größten Fall durch die ersten frühkindlichen Erfahrungen mit der ersten Bezugsperson, die in den ersten Lebensjahren für das Kind gesorgt hat. Zu dieser Person bildet sich eine besondere emotionale Bindung, da diese Beziehung für das Kind überlebenswichtig ist. Erlebt das Kind Geborgenheit und Sicherheit in dieser ersten Beziehung, ist die Basis für eine sichere Bindungsfähigkeit in späteren Jahren geschaffen. Ist das Verhalten der Bezugsperson auf Dauer ambivalent oder sogar bedrohlich für das Kind, ist die Entwicklung einer sicheren Bindungsfähigkeit erschwert. Durch die Erfahrungen in verschiedenen Situationen entstehen bestimmte Erwartungen, wie sich die Bezugsperson möglicherweise verhält. Diese Erwartungen und die Reaktionen darauf bilden die Grundlage für den Bindungstyp.
Die Bindungsforscher John Bowlby und Mary Ainsworth beschrieben anhand interessanter Forschungen an Mutter und Kind die Entwicklung des Bindungsverhaltens. Dabei stellten sie vier verschiedene Bindungstypen auf. Diese beeinflussen das Bindungsverhalten auch im Erwachsenenalter.
Verlässt die Mutter den Raum, möchte das Kind ihr folgen und fängt an zu schreien und zu weinen, wenn es daran gehindert wird. Kommt die Mutter zurück, beruhigt sich das Kind schnell, indem es Körperkontakt mit der Mutter sucht und spielt dann entspannt weiter.
Diese Kinder haben eine sichere Bindung etabliert, zeigen ihre Gefühle offen und nutzen diese Basis, um unbeschwert die Welt zu entdecken. Eine sichere Bindung fördert die Entwicklung einer gesunden Autonomie. Da die Eltern oder die Bezugsperson feinfüllig mit dem Kind umgegangen sind und seine Bedürfnisse wahrgenommen haben, kann das Kind Vertrauen in der Beziehung entwickeln.
Verlässt die Mutter den Raum, spielt das Kind ungerührt weiter mit seinem Spielzeug. Es wirkt selbstbewusst und selbstständig. Kommt die Mutter zurück, wird sie kaum beachtet. Das Kind spielt weiter mit seinem Spielzeug.
Die Kinder zeigen eine Pseudounabhängigkeit von ihrer Bezugsperson, empfinden jedoch ebenso Stress wie alle anderen Typen (gemessen am Cortisolspiegel im Speichel und am Herzschlag). Ihre Kompensationsstrategie ist das Spielen mit dem Spielzeug. Sie unterdrücken ihre Gefühle und verschließen sich. Häufig haben diese Kinder Zurückweisung erfahren und unterdrücken die negativen Gefühle durch die Vermeidung einer engen Bindung. Da sie sich nicht darauf verlassen können, ob die Bezugsperson für sie da sein wird, wenn sie sie brauchen, versuchen sie unabhängig von ihr zu sein. So können sie eine eventuelle Ablehnung vermeiden.
Verlässt die Mutter den Raum, reagiert das Kind hysterisch, überwältigt, massiv verunsichert und voller Trennungsschmerz. Es schreit, weint und schlägt gegen die Tür.
Kommt die Mutter zurück, sucht das Kind umgehend Körperkontakt, lässt sich jedoch nicht mehr beruhigen. Zudem zeigt es Aggressionen gegen die Mutter und große Wut über ihre Abwesenheit.
Diese Kinder können das Verhalten der Mutter oder Bezugsperson nicht einschätzen. Sie wissen nicht, wann sie mit Zuwendung oder Ablehnung rechnen sollen. Entsprechend sind auch ihre Reaktionen ambivalent. Diese Kinder entwickeln eine starke Abhängigkeit zu ihrer Bezugsperson und sind unsicher in ihrer Autonomieentwicklung.
Die Mutter verlässt den Raum, das Kind wirkt desorientiert. Ohnmacht, Erstarrung, Kontrollverlust, sich im Kreis drehend, wippend oder völlige Emotionslosigkeit.
Dies geschieht, wenn die Bindungsperson ambivalent verknüpft ist. Zum Beispiel einerseits Sicherheit gibt, andererseits die Quelle der Angst ist, wie es etwa bei Kindesmisshandlungen bei gleichzeitiger leiblicher und emotionaler Fürsorge der Fall ist. Die Abwesenheit dieser Person ist für das Kind beides, eine Erleichterung und eine Bedrohung. Somit sind auch die Verhaltensweisen paradox.
Die meisten Bindungsfunktionen werden in der frühkindlichen Prägephase gelegt. Immer dann, wenn Liebe und Verbindlichkeit nicht bedingungslos, sondern an Bedingungen geknüpft sind, von Unsicherheit oder Angst geprägt oder kaum vorhanden sind, besteht die Möglichkeit einer Bindungsstörung.
Beispiel: Nur wenn das Kind brav, gehorsam und gut in der Schule ist, bekommt es liebevolle elterliche Zuwendung. Ansonsten wird es ignoriert oder sogar gerügt. Das Kind lernt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist, welche die Möglichkeit bergen, sie nicht erfüllen zu können. Ein Nichterfüllen der elterlichen Bedingungen ist mit Schmerz und Liebesentzug verbunden. Diese Prägung kann ganz, je nach individuellem Persönlichkeitstypus, in Beziehungsangst (extreme Selbstständigkeit) oder in Bindungssucht (extreme Abhängigkeit/Unterwürfigkeit) umschlagen.
Ersteres zum Beispiel mit folgenden Gedanken verknüpft: “Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen.”, “Bindungen können schmerzhafte Trennungen auslösen, also vermeide ich sie.”
Letzteres kann mit den folgenden Gedanken verknüpft sein: “Ich werde immer lieb, brav und fleißig sein, damit Mama und Papa mich lieb haben”. „Ich darf das Liebesgefühl nicht gefährden, also versuche ich, Mama und Papa mit größter Anhänglichkeit an mich zu binden.”
Beide Bindungstypen können aus dem gleichen Ursprung elterlichen Liebesentzugs einhergehen und sogar Mischformen bilden, mit deren Ambivalenz der erwachsene Mensch häufig ein Leben lang zu kämpfen hat.
Auch Traumata, sowohl frühkindliche, als auch jene im erwachsenen Alter, können Bindungsängste auslösen oder verstärken. Zum Beispiel:
Bindungsangst kann nur dann überwunden werden, wenn diese dem Betroffenen bewusst ist. Je nach Ausprägung und Schwere, sollte sie durch fachgerechte psychologische Unterstützung bearbeitet werden. Denn hinter Beziehungsangst als Symptom steckt meist viel mehr, als das in die Wiege gelegte Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Ein reines Bewusstwerden des Problems behebt dieses in der Regel nicht. Was der Kopf bereits weiß, kommt im Unterbewusstsein, im Zentrum des Gefühlslebens, noch lange nicht an.
Menschen mit einem Partner, welcher unter Bindungsängsten leidet, sollten sich zunächst einmal klar machen, was eine Beziehung mit einem solchen Individuum bedeutet, inwieweit dieser bereit ist, an sich zu arbeiten und wie viel sie zurückstecken möchten. Die Beziehung wird womöglich immer ein wenig distanzierter und unberechenbarer bleiben.
Immer im Auge behalten werden sollte, dass Angst vor Nähe eine etablierte Schutzmaßnahme der Psyche auf belastende, vergangene oder gegenwärtige Situationen darstellt. Auch wenn diese keinesfalls als Freifahrtscheine für respektloses, distanziertes oder egoistisches Verhalten angesehen werden dürfen, so sollte dennoch Verständnis für die Bindungsängste eines Menschen aufgebracht werden.